(10.06.2014) Der Patriot: "Verblüffende Klangwirkung"

2014-06-11-Der Patriot-Verblueffende Klangwirkung kleinLippstadt  -  „Venezia“ lautete der Titel eines außergewöhnlichen Konzerts in der Lippstädter Marienkirche im Rahmen der zum sechsten Mal von der Evangelischen Landeskirche veranstalteten „Nacht der offenen Kirchen“. Entsprechend neugierig waren dann auch viele Musikliebhaber auf das Ergebnis eines in seinen Dimensionen schon gewaltigen Chorprojekts von Kantor Roger Bretthauer: Die Marienkirche war voll besetzt.

Inspirieren ließ sich der Kantor von der vor rund 450 Jahren im venezianischen Markusdom entwickelten Mehrchörigkeit, bei der die Ensembles auf die verschiedenen Nischen und Emporen verteilt wurden. Auch die Marienkirche müsste sich akustisch hierfür eignen, dachte sich Roger Bretthauer, und konnte prompt alle Chöre der Kirchengemeinde für sein ehrgeiziges Projekt begeistern.

Neben dem Kleinen und dem Großen Chor der Kantorei holte er auch den Chor Exodus sowie den Gospelchor Masithi mit ins Boot, instrumental unterstützt von Hildegard Goertz und Gudrun Steinbrück-Blessau (Blockflöten), Barbara Bartsch und Walter Niebur (Trompeten), Carsten Bartsch, Daniel Blessau und Carsten Hess (Posaunen). Den Basso Continuo-Part verwalteten Heinrich Rühe (Cello) und Maximilian Berglar (Truhenorgel).

Mitten im Kirchenschiff hatte sich im Mittelgang mit Guido Schlegel (Piano), Annika Bartsch (E-Bass) und Lukas Schwegmann (Drumset) eine kleine Rhythmus-Combo platziert. Drum herum verteilten sich die vier Chöre im gesamten Kirchenraum: Eine geballte Sangeskraft von rund 120 hochmotivierten Sängerinnen und Sängern beschallte die ehrwürdige Marienkirche und produzierte ein akustisch völlig neues Raumerlebnis.

Schon die Vorarbeit gestaltete sich recht schwierig: Es grenzt schon an akribische Pedanterie, die besten Positionen der Sänger und Instrumentalisten herauszufinden, um die vorhandenen akustischen Gegebenheiten auszuschöpfen und klanglich ideal auszuloten. Das Ergebnis war verblüffend, hinterließ einen nachhaltigen Eindruck auf die Zuhörer, die immer wieder spontanen Szenenapplaus spendeten.

Mit einem freudestrahlenden Gloriagesang im kraftvollen Chorforte vereinten sich alle Chöre zu Beginn bei der Vertonung des 8. Psalms „Herr unser Herrscher“ von Heinrich Schütz, der nach seinem Besuch in Venedig 1609 die Mehrchörigkeit auch im deutschen Raum einführte.

Im Altarraum postierten sich zwei Favoritchöre in unterschiedlichen Stimmlagen im Concertino mit einer im Hintergrund agierenden fünfstimmigen Cappella. So auch beim dreichörigen Gloria von Giovanni Gabrieli, einem typischen Beispiel der Mehrchörigkeit in San Marco. Auch bei den pfingstlichen Taizé-Gesängen, von denen eine eigenartige innere Ruhe und Spiritualität ausging, verteilten sich die Chöre im Kirchenraum.

Eine besondere Wirkung entfaltete auch die 1988 entstandene Klangstudie „Immortal Bach“ für fünf Chöre des norwegischen Komponisten Knut Nystedt in einer Bearbeitung von Roger Bretthauer. Der hier in meditativen Clusterklängen verarbeitete Bachchoral in seinen verschiedenen Tempi war eine immense Herausforderung an die Chöre — wenn auch klanglich etwas gewöhnungsbedürftig.

Rhythmisch betont ging es zu bei der Gospelversion „Nobody like Jesus“ für Dialog-Chöre. Im gewaltig wirkenden Finale stellte Kantor Roger Bretthauer seine Eigenkomposition „Die ganze Welt hast du uns überlassen“ für zwei Vokalchöre, Blechbläser, große Orgel und Rhythmus-Combo vor. Der Gesangbuch-Choral wurde hier in zwei differierenden Melodien vorgestellt: Zunächst kontrastierten die Strophen abwechselnd in gesanglich traditioneller Version und groovender Blues-Rhythmik miteinander, bevor sich beide Formen zum Schluss miteinander vermischten — ein interessanter Versuch einer Crossover-Musik.

Nach einer „Ruhepause“ mit Kirchenquiz und Zeichenwettbewerb sowie einer Taizé-Andacht hatten die Besucher die Möglichkeit, zusammen mit den Chören in gemeinsamem Gesang die Klangwirkungen der Marienkirche nachzuvollziehen.  - LB

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